Kaffee führt uns oft zu unerwarteten Geschichten – zu vermeintlichen Details, hinter denen sich eindrucksvolle Erzählungen über Menschen, Landschaften und tief verwurzelte Historien offenbaren, und die sich häufig über Kontinente erstrecken. In dieser Geschichte geht es um einen kleinen roten Samen, dessen Heimat im Amazonas der Startpunkt für eine große Weltreise wurde.
Lerne Annatto (Bixa orellana) kennen – einen roten Samen, bekannt für seinen erdigen, nussigen Geschmack und seine leuchtende Farbe. Unsere Reise mit ihm begann im Amazonas, wo indigene Gemeinschaften ihn seit Generationen zum Kochen, für Körperbemalung, als Medizin und sogar als Insektenschutz verwenden. Doch zu unserer Überraschung fanden wir ihn wieder – erst in der panamaischen Küche, dann später im brasilianischen Bundesstaat Espírito Santo, selbst in Vietnam und auf den Philippinen, und auch in unserer europäischen Heimat. Wie konnte dieser amazonische Samen tausende Kilometer durch Regenwälder, Gebirge und über Ozeane hinweg reisen?
Die Antwort liegt in Jahrhunderten von Migration und Handel – auch schon lange bevor europäische Schiffe amerikanische Küsten erreichten.
Bevor Kolumbus die Karibik betrat, war Amerika bereits eine äußerst lebendige, bewegte Welt. Indigene Handelsrouten verbanden den Amazonas mit den Anden, die Anden mit Mesoamerika und Mesoamerika mit der Karibik. Annatto reiste entlang dieser Pfade – getragen von Händlern, Heilkundigen und Köchen.
Die Maya und Azteken nutzten es, um heilige Getränke wie Xocoatl – den Vorläufer der modernen Schokolade – zu färben und Fleisch zu würzen. Weiter südlich erreichte es die Karibik und Mittelamerika, wo es fester Bestandteil der lokalen Küche wurde.
Die Reise von Annatto innerhalb Amerikas erzählt eine andere Geschichte als das europäische Narrativ von isolierten, „primitiven“ Zivilisationen. Annatto– ebenso wie Kakao, Mais und Chili – war Teil eines fortschrittlichen, hochentwickelten Handelsnetzwerks, das Jahrhunderte vor der Kolonisierung existierte.
Als die Spanier*innen und Portugies*innen ankamen, nahmen sie nicht nur Land und Ressourcen in Anspruch. Ganze Kulturen wurden ausgelöscht, inbegriffen ihre Rituale und Handelsrouten. Achiotes globale Reise wurde mit einem der dunkelsten Kapitel jüngerer Geschichte verstrickt: dem transatlantischen Sklavenhandel.
Mit den versklavten Afrikaner*innen, die gewaltsam in die Amerikas verschleppt wurden, reisten auch ihre kulinarischen Traditionen. Sie passten sich an neue, oft feindliche Umgebungen an. Im Gegenzug gelangten Zutaten der Neuen Welt – Maniok, Mais und Annatto– nach West- und Zentralafrika und fanden dort ihren Platz in den lokalen Küchen.
Heute taucht Annatto in Ghana, Togo und Angola in Suppen, Eintöpfen und Reisgerichten auf, oft vermischt mit Palmöl – eine kulinarische Verschmelzung, die aus Widerstandskraft und Überlebenswillen entstand. Was einst ein Samen war, der über indigene Handelsnetze verbreitet wurde, ist heute Teil eines schmerzhaften, aber kraftvollen Erbes kultureller Anpassung.
Die Spanier erkannten den Wert von Annatto sowohl als Farbstoff als auch als Gewürz und brachten es über den Pazifik – durch den Manila-Galeonenhandel. In den Philippinen wurde es zu einer unverzichtbaren Zutat in Gerichten wie Kare-Kare und Pancit Malabon und verwebte sich mit der südostasiatischen Küche.
Von dort aus verbreitete es sich weiter – vermischt mit lokalen Gewürzen und Zutaten, integriert in Gerichte Indonesiens, Malaysias und Vietnams. Annattos Geschichte zeigt, dass Migration keine Einbahnstraße ist – sondern ein fortlaufender, sich ständig weiterentwickelnder Austausch.
Dieser Artikel wurde verfasst von Lukas Harbig.